WIR HIER: Artikel von Geflüchteten und Menschen, die schon länger hier leben

Ratlos

Von Aufzeichnungen aus einem Gespräch. Von Susanne Martin

Eine Entscheidung der Ausländerbehörde Segeberg führte dazu, dass ein Geflüchteter, der in Norderstedt in Lohn und Brot stand, nicht mehr arbeiten darf. Und das in einem Handwerksberuf, für den es nicht gerade Arbeitskräfte im Überfluss gibt.
Der Hintergrund: Wer von den Geflüchteten nur eine Duldung hat und der Ausländerbehörde keinen gültigen Pass des Heimatlandes vorlegen kann, muss ihn z.B. bei der Botschaft seines Landes beschaffen. Kann der Geduldete das nicht oder tut er das nicht, weil er nicht an seiner Abschiebung mitarbeiten will, kann er von der Ausländerbehörde wegen fehlender Mitarbeit ein Arbeitsverbot kassieren. Kann, wie gesagt, nicht muss. Die Ausländerbehörde hat hier durchaus einen Ermessensspielraum.


Der Mann ist seit 2015 in Deutschland und 34 Jahre alt. Sein Heimatland ist Bangladesch. Bangladesch ist ein überwiegend islamisches Land. Seit 2013 gibt es immer wieder islamistisch motivierte gewaltsame Übergriffe und Morde an Sozialaktivisten und Bloggern mit säkularer Weltanschauung sowie an Journalisten. Als besorgniserregend gilt laut einigen NGOs die hohe Zahl an Entführungen aus wahrscheinlich politischen Motiven, in die staatliche Organe involviert zu sein scheinen.
Der Mann hat in Bangladesch zwei Jahre Wirtschaftswissenschaften studiert, für den Abschluss fehlten ihm noch zwei Jahre, als er, um weiterer politischer Verfolgung zu entgehen und seine Familie zu schützen, wie er sagt, mit einem Arbeitsvisum nach Singapur ging. Dort hat er Gerüstbau gelernt und sieben Jahre gearbeitet. Viele Zertifikate belegen das,. Bevor sein Visum ablief, flog er nach Deutschland, denn nach Bangladesch konnte er nicht zurück.
Er ist ein einsamer Mann. Seine Familie fehlt ihm: sein Vater, seine vier Geschwister, besonders aber seine Mutter. Er telefoniert mehrmals täglich mit ihr. Er ist der einzige Geflüchtete aus Bangladesch in Norderstedt. Er hat auch keinen Kontakt zur Bangladescher Community in Hamburg. Eine Vorsichtsmaßnahme?
Er ist ein fleißiger Mann. Während die anderen Geflüchteten um ihn herum an offiziellen Deutschkursen teilnehmen durften, war ihm als Bangladescher der Zugang zum Deutschunterricht versperrt. Der Deutschunterricht des Willkommen-Teams war für ihn unergiebig, also lernte er alleine weiter, fand auch jemanden, der seine Deutschkenntnisse individuell förderte. Später, als es spezielle Deutschkurse für Geflüchtete wie ihn gab, machte er die B1-Prüfung, lernte danach mit privater Unterstützung weiter.
Er ist ein gut integrierter Mann. Er nimmt andere durch seine Freundlichkeit für sich ein, spricht mit den Menschen um sich herum auf Deutsch oder Englisch, hat losen Kontakt zu einigen Deutschen, die ihn auf seinem Weg begleitet haben. Im Rahmen des Deutschkurses konnte er, vermittelt von der Agentur für Arbeit, ein sechswöchiges Praktikum bei einem Dachdecker machen. Dort war man interessiert daran, ihn als Dachdeckerhelfer einzustellen. Sein Wegbegleiter vom Willkommen-Team sprach mit dem Chef, ging mit Kamrul Hasan zur Arbeitsagentur. Die Sachbearbeiter reagierten sehr gut, die Firma wurde angerufen, die notwendigen Formalitäten gleich mit erledigt. Er hatte den Job, zahlte Steuern und Sozialversicherungen, lag dem deutschen Steuerzahler nicht mehr auf der Tasche. Alles lief gut, der Chef wollte ihm sogar die Ausbildung zum Dachdecker ermöglichen.
Er ist ein ratloser Mann. Sein Antrag auf Asyl in Deutschland ist abgelehnt worden. Er ist ein Geduldeter, seine Abschiebung war wegen fehlender gültiger Ausweispapiere nicht möglich.  Die Rechtslage ließ dennoch zu, dass er arbeiten durfte. Ein Jahr und 10 Monate stand er finanziell auf eigenen Beinen, aber seit August 2018 ist alles anders. Die Ausländerbehörde in Bad Segeberg hat ein Arbeitsverbot erteilt, seine Duldung wird seitdem immer nur um 4 Wochen verlängert. Weder seine eigenen Erklärungen, dass er doch dem Staat nicht auf der Tasche liege, noch ein Schreiben seines bisherigen Chefs, des Dachdeckermeisters, ließen die Ausländerbehörde ihre Entscheidung überdenken: Er solle gültige Ausweispapiere besorgen. 
Ob er die über die Bangladeschische Botschaft in Berlin überhaupt bekommen würde, ist ungewiss. Dass er mit dem Besorgen an der eigenen Abschiebung mitarbeiten würde, weiß er - die letzte Sammelabschiebung nach Bangladesch war im April dieses Jahres. Was es bedeutet, wenn nachts die Polizei in seine Privaträume eindringt und ihn mitnimmt, weiß er auch. Das und Schlimmeres hat er schon in Bangladesch erlebt, das will er in Deutschland nicht wieder erleben. Was also soll er tun?
Wir sind so ratlos wie er.

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