WIR HIER: Artikel von Geflüchteten und Menschen, die schon länger hier leben

Deutsch lernen - das Tor zur Integration

Von Diana Loos

Vor mir ein Meer fremder, gespannter Gesichter, ca. 15 Menschen um drei kleine Tische, auf kleinen, teils wackeligen Stühlen. Vor ihnen auf den Tischen Notizbücher und Bleistifte sowie einige einfache Kugelschreiber, die mein Kollege, mit längerer Erfahrung im Deutschunterricht für Geflüchtete, päckchenweise besorgt hat. Die Atmosphäre ist aufgeregt und aufregend, durchzogen von gegenseitiger Neugier: Seitens der Lernenden die Frage, wie diese neue Lehrerin es wohl schaffen wird, die schroffen Klippen der als schwierig berüchtigten deutschen Sprache zu umschiffen, damit man Fortschritte in der Verständigung macht; seitens der Lehrerin schwache Erinnerungen an ihren eigenen ersten Deutschunterricht, der mehrere Jahrzehnte früher am englischen Gymnasium stattgefunden hatte. Jetzt hat sie es auf sich genommen, diese geflüchteten Menschen ein paar Schritte weiter auf ihrem dornigen Weg der Integration zu begleiten, indem sie ihnen ermöglicht, die Grundlagen der deutschen Sprache als Basis für das weitere Lernen zu bewältigen.

 

Bereits bei den ersten Unterrichtsstunden war mir eine Tatsache ganz klar: Das größte Problem war die einfache alltägliche Kommunikation. Meine ersten Erfahrungen als Fremdsprachenlehrerin machte ich als Englischlehrerin in der Berlitzschule, wo Wert darauf gelegt wird, dass alle Kommunikation im Unterricht in der Fremdsprache stattzufinden hat. Hier kam dieses hehre Ziel gar nicht in Frage – zu unterschiedlich waren die Begleitumstände und die Hintergründe der Lernenden. Mit Händen und Füssen und sehr vereinfachter deutscher Grammatik tat ich mein Bestes, und stellte ziemlich schnell fest, dass dieser Unterricht etwas ganz Besonderes war – weil alle, die da waren, wirklich lernen wollten. Der durchschlagende Beweis, und gleichzeitig die Lösung des Verständigungsproblems, stellte sich nach einigen Stunden heraus: Schon bei der ersten Unterrichtsstunde fiel mir ein Gemurmel auf - die Lernenden sprachen ständig aber immer ganz leise miteinander. Ein ähnliches Phänomen kannte ich aus meiner Zeit als Lehrerin im Gymnasium und Realschule; die Jungs und Mädels tauschten Neuigkeiten über den neuesten Freund, den bevorstehenden Discobesuch oder die tollste Musik aus; der Unterricht war ihnen nicht so wichtig. Ganz im Gegensatz zu meinen Geflüchteten: Das Gemurmel entstand, weil diejenigen, die mehr konnten oder besser verstanden, den anderen, die Schwierigkeiten hatten, gute Ratschläge gaben. So waren alle sinnvoll beschäftigt, und so konnten sich die Eriträer, die Syrer, die Iraker, die Iraner, die Afghanen in ihren verschiedenen Sprachen, wovon ich keinen blassen Schimmer habe, gegenseitig helfen. Dabei hatten sie allerdings Hilfsmittel, die in der Schule verboten sind: vor jeder Teilnehmerin (es waren meistens Frauen) lag das Handy, das während des Unterrichts im ständigen Gebrauch war, denn die Frauen hatten schon längst die richtige Website gefunden, um Wörter nachzusehen, die nicht sofort verstanden wurden!
Meine Gruppe, die in der Anfangszeit aus zehn bis fünfzehn SchülerInnen bestand, galt nicht mehr als „Anfänger“. Mein Kollege nahm die ersten Unterrichtsstunden mit den Neuankömmlingen vor, um festzustellen, auf welchem Stand die Geflüchteten waren und mit welchem sprachlichen Hintergrund sie Deutsch lernen wollten. Erstaunlich viele, und noch erstaunlicher viele junge, waren Analphabeten, die nicht nur so gut wie keine Ahnung von Lesen und Schreiben hatten, sondern auch zum Teil nicht mal zählen konnten, geschweige denn rechnen. In mühevoller, geduldiger, auf jeden einzelnen ausgerichteter Arbeit brachte mein tüchtiger Kollege ihnen Lesen, Schreiben und häufig auch Zählen und Rechnen in Deutsch bei – wobei man nicht vergessen darf, dass alle eine Muttersprache mit einem gänzlich anderen Alphabet haben. Einige hatten teilweise erstaunlich gute Englischkenntnisse und benutzten sie als Eselsbrücke zwischen den Sprachen. Oft waren diese diejenigen, die am schnellsten die Grundlagen der deutschen Sprache beherrschten und sich bald verabschiedeten, um einen regulären Sprachkurs zu besuchen: Der nächste Schritt auf dem Weg zur Integration, der wichtigsten Voraussetzung, um in der neuen Heimat Arbeit zu finden.
Ich stellte bald fest, wo die größten Schwierigkeiten lagen: Verbkonjugationen und Fälle. Ich konnte mich genau daran erinnern, wie schwer es mir damals als Engländerin fiel, bei den Verben für jede Person eine andere Verbform zu lernen, wo es in Englisch höchstens zwei Verbformen gibt und nicht acht oder neun! Das Gleiche gilt für die Fälle sowie die Nomen und Adjektive im Allgemeinen: Nicht nur, dass die deutsche Sprache drei Geschlechter hat, die häufig gar keine logische Beziehung zum Nomen haben (warum ist ein Tisch der???), nein, die Artikel der, die, das weisen eine verwirrende Vielfalt auf, abhängig davon, ob sie im Nominativ, Genitiv, Dativ oder Akkusativ sind. Das größte Problem für mich war und ist, dass ich keine Ahnung habe, ob die Sprachen, die meine SchülerInnen sprechen, auch solche Konstruktionen aufweisen. Gelegentlich habe ich versucht, die Lernenden zu fragen, ob es etwas Vergleichbares in ihrer Sprache gibt, aber solche Forschungsansätze scheitern meistens an dem allgegenwärtigen Mangel an Verständigungsmöglichkeiten. Aus diesem Grund falle ich regelmäßig auf das Motto „Ihr müsst es lernen!“ zurück und dabei auf die altmodische Paukerei von Verbformen, -endungen und Fällen, wie ich sie auch lernen musste.
Die zweite Schwierigkeit, womit ich am Anfang zurecht kommen musste, war einfach, dass die Geflüchteten nicht mit den Gepflogenheiten des Unterrichts vertraut waren. Einige hatten nie eine Schule von innen gesehen, bei anderen lag die Schulzeit lange zurück. Am Anfang war es fast unmöglich, den Lernenden klar zu machen, was ich von ihnen wollte. Lobenswert war der Ansatz, ausnahmslos alles aufzuschreiben, was ich an die Tafel schrieb. Allerdings dauerte es bei einigen sehr lange, bis sie zwischen Frage und Antwort unterscheiden konnten, statt wie ein Papagei alles zu wiederholen und aufzuschreiben. Überhaupt war die Aussprache ein ganz großes Lernhindernis. Einige, die wohl erst jetzt in Deutsch Lesen und Schreiben gelernt hatten, konnten keine Verbindung zwischen dem Geschriebenen und dem Gesprochenen begreifen, und häufig konnte ich die Aussprache nicht Satz für Satz üben, sondern Wort für Wort, manchmal sogar Silbe für Silbe.
Im Laufe der Zeit haben sie immer mehr Grundsätze des Lernens verinnerlicht, die ich immer und immer wieder mit ihnen geübt hatte: Zum Beispiel, dass man Nomen immer mit dem dazugehörigen Artikel lernen muss, dass man den ersten Buchstaben in einem Satz groß schreibt, dass bei Verben jede Person eine andere Endung hat, dass das kleine Wort „sie“ zwei oder sogar drei verschiedene Bedeutungen hat. In diesem Zusammenhang fiel es mir erst vor Kurzem auf, dass es ein Thema gibt, das ich nicht extra mit ihnen üben muss: Am Anfang haben wir uns alle geduzt, und ich habe mehr oder weniger nebenbei die Formen mit „Sie“ erwähnt und durchgenommen. Seitdem werden sie im täglichen Leben mit der Höflichkeitsform konfrontiert, und sie haben sie daraufhin ganz automatisch in den eigenen Sprachgebrauch übernommen.
In der Ferienzeit habe ich oft Kinder in meinem Unterricht, weil sie Schulferien haben und sich vielleicht ein bisschen langweilen. Es ist immer eine große Freude festzustellen, dass junge Kinder eine Fremdsprache wirklich spielerisch lernen und zwischen der eigenen und der gerade gelernten hin und her hüpfen, ohne einen Augenblick darüber nachdenken zu müssen. Was für ein Vermögen an Fertigkeiten wächst hier heran – Kinder, die mindestens zwei Sprachen aus zwei gänzlich verschiedenen Kulturkreisen fließend sprechen, später andere (in erster Linie Englisch) dazulernen und so für eine multikulturelle Zukunft über Grenzen hinweg hervorragend ausgerüstet sind! Hoffentlich wird die Gesellschaft der Zukunft diese große Bereicherung zu schätzen und zu nutzen wissen, indem man die ehemals Geflüchteten in Berufen ausbildet, die ihren Fähigkeiten entsprechen (spontan fallen mir Journalismus und globaler Handel ein, aber die Möglichkeiten sind endlos).
In den zwei Jahren, in denen ich den Geflüchteten Deutschunterricht gebe, habe ich selbst sehr viel gelernt. Die erste und wichtigste Erkenntnis war, dass die äußerliche Erscheinung eines Menschen sehr wenig über sein inneres Wesen aussagt. Die Frauen aus Syrien in ihren langen, bunten Gewänden, mit teilweise herrlich farbigen, raffiniert gewundenen Kopftüchern, wirken im ersten Augenblick wie Märchenfiguren aus 1001 Nacht. Da wir Frauen fast immer unter uns waren (die Männer machten zum großen Teil schon Integrationskurse) kamen wir uns sehr nah, und trotz der Verständigungsschwierigkeiten konnten wir wiederholt feststellen, dass irgendwelche Unterschiede meistens oberflächlich sind. Wir haben sehr viel gelacht und uns über dieselben Dinge gefreut - Dinge wie Essen, Kinder, Schule kamen am häufigsten in unseren Unterhaltungen vor.
Als Vorbereitung auf den Unterricht wurde uns geraten, die Geflüchteten nicht über die Zustände ihrer Flucht auszufragen, da viele noch traumatisiert sind. Kleine Hinweise tauchten immer wieder im Unterricht auf, zum Beispiel, als wir die Wörter lernten, die mit Reisen zu tun haben: Ich gehe zu Fuß, ich fahre mit dem Bus oder dem Zug, ich fliege mit dem Flugzeug. Als sie eigene Sätze bilden sollten, kam immer wieder der sehnsuchtsvolle Satz „Ich fliege mit dem Flugzeug nach Syrien!“. Eines Tages lernten wir gerade die vielen Möglichkeiten, die man im Deutschen hat, zu sagen, dass man etwas mag: Ich mag das und das, ich habe das und das gern, mir gefällt das und das usw. Aus Gründen der eigenen Neugier und weil es an dem Tag eine besonders sympathische Lerngruppe war, habe ich sie gefragt, was ihnen an Deutschland gefällt. Eine begeisterte Viertelstunde später war die Tafel voll Wörter, von „Kinderspielplätze“ bis zu „öffentliche Verkehrsmittel“ und alles dazwischen – zum Beispiel die Ruhe in den Straßen sowie die freundlichen Menschen. Eine junge Frau, die mir dadurch aufgefallen war, dass sie immer etwas lernen wollte, was einige Schritte weiter war, suchte und suchte in ihrem Handy nach einem Konzept, das ihr in Deutschland besonders gefiel, und kam letztlich auf das Wort „Gesetz“. In Deutschland gelten Gesetze, und das gefiel ihr! Wir haben wie immer viel gelacht, und zuletzt sagte ich, „Gibt es gar nichts, was euch nicht gefällt?“ Dann haben wir tatsächlich etwas gefunden: „Das Wetter gefällt mir nicht!“ Inzwischen hatten wir einen Traumsommer, also können sie sich nun über nichts mehr beschweren!

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