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Die Mutter


Die Mutter
von Hayl Aioub aus SyrienHayl

Es war einmal eine Mutter, die nur ein Auge hatte. Ihr Sohn hasste sie, weil er sie peinlich und beschämend fand. Sie arbeitete als Köchin in der Schule, in die ihr Sohn ging. Sie bereitete die Mahlzeiten zu, denn sie wollte ihren Sohn dabei unterstützen, seine Ausbildung zu beenden. Der Sohn versuchte jedoch immer, sie vor seinen Freunden zu verstecken, denn er schämte sich für ihr Gesicht. Eines Tages kam seine Mutter in seine Klasse, um nach den Prüfungsergebnissen zu fragen, doch er ignorierte sie und sagte: „Verschwinde mit deinem hässlichen Gesicht! Meine Freunde sagen immer, ich sei der Sohn der hässlichen Köchin. Ich wünschte, du würdest sterben und aus meinem Leben verschwinden.“ Seine Mutter war sehr traurig, doch sie blieb ruhig, mit unerschütterlicher Geduld und Ausdauer. Der Sohn beendete die Schule, er fand Arbeit und

heiratete. Er verließ seine Mutter, denn er dachte, dass er ohne sie glücklicher sei.

Seine Mutter vermisste ihn sehr und nach vielen Jahren beschloss sie, zu ihm zu fahren, um ihn und seine Kinder zu besuchen. Doch angesichts der Reaktion ihrer Enkelkinder war die Mutter sehr überrascht, denn einige machten sich über sie lustig und andere begannen zu weinen. Und nach nur einem einzigen Tag befahl ihr Sohn ihr, sein Haus wieder zu verlassen, also ging sie und sie war unfassbar traurig.

Nach vielen weiteren Jahren kehrte der Sohn in seine alte Stadt zurück und als er beim Haus seiner Mutter ankam, sagten ihm die Nachbarn, dass seine Mutter verstorben war. Der Sohn verlor keine Träne. Ein Nachbar drückte ihm einen Brief in die Hand, den seine Mutter vor ihrem Tod geschrieben hatte. Sie hatte den Nachbarn darum gebeten, ihn ihrem Sohn zu geben, wenn sie nicht mehr war. Der Sohn öffnete den Brief:

Mein lieber Sohn,

ich liebe dich so sehr und ich war so froh, dich bei mir zu haben und dich aufwachsen zu sehen. Genauso hätte ich mir gewünscht, meine Enkelkinder um mich herum spielen zu sehen, in dem Haus, in dem ich alleine gelebt habe. Ich habe mich dort sehr einsam gefühlt und Einsamkeit ist wie der Tod, mein lieber Sohn. Ich habe ein Geheimnis, das ich mit niemandem in meinem Leben geteilt habe. Du bist der erste, dem ich es erzählen werde. Nachdem dein Vater bei einem Autounfall ums Leben kam, hast du dein rechtes Auge verloren. Ich war darüber sehr traurig und habe mit dir mitgefühlt. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie mein Sohn mit nur einem Auge leben soll. An diesem Tag beschloss ich, dir mein Auge zu geben, damit du ein glückliches Leben führen kannst.

Alles Liebe
Deine Mutter

Zur Person:

Hayl Aioub ist Ingenieur für Medizintechnik. In seinen Geschichten geht es oft um Missverständnisse zwischen Menschen. Er schreibt seine Geschichten konsequent auf Deutsch.

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