WIR HIER: Artikel von Geflüchteten und Menschen, die schon länger hier leben

“Arschloch”

Von Mustafa Maai

Wenn ich auf mein Leben vor mehr als 35 Jahren zurückblicke, so er­innere ich mich an viele meiner Träume. Ich erinnere mich an sämtli­che Jahreszeiten, insbesondere an die Frühlingszeiten und die Som­mer. Den Frühling in unserem Dorf kann man mit Worten nicht schöner beschreiben, als es in den Heiligen Schriften geschehen ist.
Leider ist es undenkbar, dass diese Zeiten zurückkehren.


Obwohl die Zeit vergeht, erinnere ich mich an viele Details aus meinem früheren Leben. Ich erinnere mich an die Häuser aus Lehm, an die engen Gassen, in denen sich ein Haus an das andere dräng-te. Ich erinnere mich, wie wir bis zum Abend draußen spielten, bis wir schließlich nach Hause gingen, uns auf unseren Matratzen ausstreckten und schliefen. Ich erinnere mich an Dinge, aber auch an das, was wir uns erhofften und wovon wir träumten.
Wir wuchsen heran und träumten noch immer. Das Träumen war ein Spiel und ein Zauber, angefacht durch das Wehen des Windes und durch dessen Still­stand zum Erlöschen gebracht.
Ich träumte davon, dass ich ein Vogel bin, der im wei-ten, leeren Raum fliegt, und nichts machte mich schlaf-los außer einer Wolke, die mir die Sicht nahm.
Meine zehnjährige Tochter ist geistig behindert. Trotz aller Versuche gelang es der modernen Wis­senschaft nicht, die Ursachen für die Behinderung herauszubekommen und ihr zu helfen. Aber trotz dieser Behinderung bleiben dem Mädchen sein Em-pfinden und seine Wünsche danach, in den freien Raum hinauszutreten und die Luft und die Schönheit der Natur zu genießen.
Eines Tages folgte ich ihr im Traum; wir verließen das Haus, um in der Stadt spazieren zu gehen. Wir lenkten unsere Schritte zum Bahnhof und nahmen im Zug Platz. Während wir auf einer der Sitzbänke saßen, wendete sich einer der ausländerfeindlichen Deutschen mir zu mit Wörtern, für die es keine Bedeutung gibt, und er beendete seine Beschimpfung mit „Arschloch“.
Ich blieb für einen Moment still, um mich von meinem Schock zu erholen. Ich konnte das, was mir wider­fahren war, nicht begreifen. Genau wie die übrigen Deutschen in dem Zug, aus dem ich an der nächsten Haltestelle zerstreut und geschockt mit meiner Tochter ausstieg. Wir gingen dorthin, wo das Wasser und das Grün waren, wobei meine Tochter mich in Richtung des kleinen Sees zerrte, auf dem Enten und Gänse schwammen, und wir setzten uns nachdenklich auf einen der Stühle. Ich betrachtete die schwimmenden Enten und sagte zu mir selbst: „‚Wie du doch Glück hast, oh Ente, selbst du hast ein Königreich und lebst im Glück. Die Tiere und Vögel haben eine Heimat. Was dich angeht, du Unglücklicher, wo ist deine Heimat und was machst du bloß hier?“ Ich nutzte die Gelegenheit und stellte meine Frage. Ich hätte frei sprechen kön­nen, aber ich flüsterte.
Ich habe einen Brief bekommen, in dem steht: „Pass auf, Flüchtling, in dem Land fern der Heimat. Du bist nicht der Einzige, gegen den diese Beleidigung gerich­tet wurde.“
Während ich mir die Taten und ‚Leistungen‘ Assads und der Baath-Partei ins Gedächtnis rufe, die uns in die Diaspora zwangen, nähern wir uns der Befreiung. Damals machte ich einen tiefen Atemzug und zündete mir eine Zigarette aus schlechtem Tabak an. Trotz der Beleidigung fühlte ich, dass ich Hoffnung gewonnen hatte.
Jeden Tag hoffe ich, dass es dir gut geht, meine Hei­mat! Mit jedem neuen Tag und mit jedem Schrei aus den Kehlen der Aufständischen, die den Wechsel fordern, wächst die Hoffnung. Mit jedem Tropfen Blut, der vergossen wird, fällt ein Stein aus der Mauer des Königreichs aus Angst und Schrecken im autoritären Syrien, das dem Untergang geweiht ist. Unweiger­lich beginnt dann die Morgenröte der kommenden Freiheit. Und der Frühling in unserem Dorf wird auf so schöne Weise wiederkehren, wie ich ihn von früher in Erinnerung habe.

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