WIR HIER: Artikel von Geflüchteten und Menschen, die schon länger hier leben

Von einem, der auszog, das Fürchten zu vergessen

Von Arno Nyhm

Ich habe es getan: Im Dezember 2017 habe ich ein Zimmer in meinem Haus an einen Geflüchteten aus dem arabischen Sprachraum vermietet.
War das klug? Ich bin nicht immer sicher. Ich bin nur sicher, dass es nicht dumm war.
Wir hatten einander im Sommer im Rahmen eines WT-Projektes kennengelernt: Ein sympathischer junger Mann, knapp 30 Jahre alt, aus gutem Elternhaus, mit dem Willen, hier bei uns Fuß zu fassen. Und mit großen Problemen in seiner Sammelunterkunft: Alle sprachen Arabisch statt Deutsch, weil es einfacher ist; sehr verschiedene Kulturen prallten dort aufeinander; Landsleute mit psychischen Problemen machten Stress – bis hin zur konkreten Bedrohung.

Die Kennenlernphase zog sich über einige Monate, bis ich mich durchringen konnte, ihm das Zimmer anzubieten. Und es dauerte einige Wochen, bevor er sich entschloss, das Angebot anzunehmen. Bedenken waren also durchaus auf beiden Seiten vorhanden.
Ich war mir bewusst, dass ich einen Teil meiner Freiheit aufgebe, wenn ich nicht mehr alleine wohne und schalten und walten kann, wie es ausschließlich mir passt. Und ihm war klar, dass seine Freiheit, mit Freunden am Wochenende bis 3 Uhr morgens Party zu machen, in meinem Haus eingeschränkt sein würde.
Wir haben in dieser Zeit versucht, den Rahmen abzustecken. Und wir sind übereingekommen, dass es eine Wohngemeinschaft werden sollte, die von gegenseitigem Respekt und Rücksichtnahme geprägt ist. Vor diesem Hintergrund war es für mich wichtig, dass wir beide keine religiös geprägten Menschen sind, sondern unser Leben am Weltlichen ausrichten. Bei allen kulturellen Unterschieden war das ein Minimalkonsens.
Und was ist in den mittlerweile 14 Monaten daraus geworden?
Eine stinknormale Wohngemeinschaft, mit allen Problemen, die so eine Wohngemeinschaft eben hat: Gelegentlich mangelnde Kommunikation, die zu Verstimmungen führt; unterschiedliche Ansprüche an Sauberkeit und Sorgfalt, mal bei mir, mal bei ihm; Stimmungslagen, die gerade nicht miteinander kompatibel sind; gegenseitige Enttäuschungen, die auf unausgesprochenen Erwartungen beruhen.
Klingt zu negativ? Dann mal die andere Seite: Gegenseitiges Bekochen und gemeinsames Essen; lange Gespräche, in denen wir uns über unsere kulturelle Herkunft und unsere Weltsicht unterhalten; gemeinsames Lachen und Weinen über das Leben in Deutschland und den Zustand der Welt.
Und die eigentliche Erfolgsgeschichte: Mein Mitbewohner hat einen Ausbildungsplatz im IT-Bereich gefunden. Er sieht die große Chance, die eine deutsche duale Ausbildung für seine Zukunft bietet. Er kämpft sich zäh durch die Anforderungen der Berufsschule, an denen viele Deutsche schon scheitern würden, obwohl alles in ihrer Muttersprache stattfindet.
Eingangs habe ich gefragt, ob meine Entscheidung klug war. Und ich bin nicht immer sicher. Das liegt aber nicht daran, dass ich einen „Ausländer“ bei mir wohnen habe.
Es liegt zum Beispiel am Altersunterschied. Ich bin 60, er ist 30. Da ist es schwer und anstrengend, sich nicht wie der Papa aufzuführen, wenn man sieht, dass der Junge gerade Fehler begeht oder unrealistische Flausen im Kopf hat. Das wäre bei einem Deutschen genauso.
Es liegt daran, dass man seine Komfortzone verlassen muss, z.B. wenn es darum geht, die „Musik“ des Jüngeren zu akzeptieren oder sich einzugestehen, dass man selbst mit 30 auch noch ziemlich viel Unsinn verzapft hat und keineswegs so verantwortungsbewusst war, wie man heute zu erinnern glaubt. Das wäre bei einem Deutschen genauso.
Es liegt daran, dass es schwer ist, sich in einer Position wiederzufinden, die zwischen „Du bist nicht mein Vater!“ und „Bitte hilf mir, ich bin doch noch so klein...“ wechselt. Das wäre bei einem Deutschen dieses Alters genauso.
Aber ich bin eben sicher, dass es keine dumme Entscheidung war. Mein Mitbewohner ist weiter, als er es in der Sammelunterkunft alleine hätte schaffen können. Er wohnt bei mir, ohne sich fürchten zu müssen. Er ist auf dem Weg in die deutsche Gesellschaft.
Und wenn mir noch ein paar Jahre bei guter Gesundheit geschenkt werden und die Welt zur Vernunft kommt, dann können wir vielleicht irgendwann unseren gemeinsamen Traum erfüllen, miteinander sein Heimatland zu besuchen und seine kulturellen Wurzeln zu erleben.

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