WIR HIER: Artikel von Geflüchteten und Menschen, die schon länger hier leben

Mein Weg

Von Filiz Iraz Umulgan aus der Türkei
Aus dem Türkischen übersetzt

Filiz Iraz UmulganIm März 2016 habe ich Mardin, wo ich geboren wurde und wo ich die schönsten Tage meiner Kindheit und Jugend verbracht habe, verlassen müssen. Mardin liegt im kurdischen Gebiet der Türkei und man konnte dort alle Religionen, Kulturen, Farben und Gerüche finden, Mardin war eine kosmopolitische Stadt. Die Schönheit der Stadt zu beschreiben würde viele Bände füllen und vermutlich auch dann noch unvollständig sein. Aber nicht nur Madin, nein, mein geliebtes Land habe ich verlassen müssen. Seitdem bin ich in Deutschland.

Meine gesamte Schulzeit habe ich in Madin verbracht. Nach meinem Abitur bestand ich die Aufnahmeprüfung für die Universität in Van und habe dort Literatur studiert. Das Bemerkenswerte an dieser Universität war: 80 % der Studenten waren Kurden, aber alle Dozenten Türken und Feinde der Kurden, Faschisten und türkische Nationalisten. Nicht nur in den Vorlesungen sollte uns Kurden unsere Sprache und Kultur genommen werden, der Campus war außerdem voll von Militär, das uns Kurden schikanierte.

Als junge Kurdin wollte ich die Freiheit haben, meine eigene Sprache zu sprechen und meine Kultur und Religion zu leben. Darum habe ich gegen diese Unterdrückung zusammen mit 200 anderen Studenten protestiert. Natürlich sind wir von der Universität verwiesen worden, nachdem uns die Ausweise abgenommen wurden. Ohne Ausweise konnten wir uns nirgendwo sonst an einer Universität bewerben. Ich habe gegen den Ausschluss vom Lehrbetrieb in Van geklagt und durfte nach zwei Jahren mein Studium wieder aufnehmen.
Nach dem Examen bin ich Lehrerin geworden, weil ich mein Wissen weitergeben wollte. Ich unterrichtete dann in einer kurdischen Gemeinde an einer Schule, die von der HDP betrieben wurde, einer Partei, die sich als Partei aller Minderheiten versteht. Bezahlt wurde ich nicht für meine Arbeit.
70 % meiner Schüler waren Mädchen, das war ein hoher Prozentsatz in einer Gegend, wo Eltern ihre Töchter eher nicht zur Schule schicken, weil sie ohnehin heiraten sollten und außerdem das Geld fehlte. Ich habe meinen Schülern nicht nur Mathematik und Lesen und Schreiben beigebracht und Kurdisch mit ihnen gesprochen. Ich habe ihnen auch die kurdische Kultur und gesellschaftliches Wissen vermittelt, um sie auf das Leben vorzubereiten. Die Schule legte Wert darauf, dass die Schüler verstanden, dass sie mehr erreichen können, wenn sie das Gelernte anwenden.
Ich bekam während dieser Zeit ständig Druck von der Regierung. Mitten im Schulhalbjahr wurde die Schule dann durch die Regierung geschlossen. Dadurch mussten die sowieso benachteiligten Kinder zu Hause bleiben und konnten nicht weiterlernen.
Die türkische Regierung hat kritische Fragen von Kurden damals ebenso wenig wie heute geduldet. Gebildete Kurden sind für die Regierung ein Störfaktor. Kurden sollen zwar wie Türken denken und handeln, aber minderwertige Tätigkeiten ausüben. Und nicht die Kriminellen werden verfolgt, sondern die Kurden - eine Statistik sagt, dass jeder vierte Kurde in der Türkei schon einmal verurteilt wurde. Durch diese Regierungshaltung sind die Kurden erst zu den sich widersetzenden Menschen geworden, als die sie heute in der Türkeit gelten.
Die letzten zwei Jahre regierten die Kurden sich selbst. Deshalb wurden viele Menschen, junge wie alte, von unseren Feinden barbarisch getötet. Städte wurden bombardiert, es herrschte monatelang Ausgangssperre, Verwundete auf den Straßen durften nicht geborgen werden. Ich habe selbst erlebt, wie vor meinen Augen ein verletztes Kind im Staub zwischen Trümmern qualvoll starb Nicht einmal die Toten durften wir beerdigen, wir lagerten sie in Kühlschränken und -truhen, um ihre Verwesung aufzuhalten.
Die türkische Regierung kann aber machen, was sie will, sie wird nie unsere Sprache und Kultur ausrotten oder tatsächlich verbieten können. Ich frage mich nur: Wo sind in all dieser Zeit die demokratischen Länder gewesen, die die Achtung der Menschenrechte auf ihre Fahnen geschrieben haben? Warum greifen sie nicht ein, wenn in der Türkei das Menschenrecht mit Füßen getreten wird? Sie scheinen nur untätig zuzuschauen.

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