WIR HIER: Artikel von Geflüchteten und Menschen, die schon länger hier leben

“Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen ineinander” (Ilija Trojanow)

Von Susanne Dähn

Ich bin deutsch. Deutscher könnte ich nicht sein: Geboren von deutschen Eltern mit ihrerseits deutschen Eltern mit ihrerseits …. , aufgewachsen in Schleswig-Holstein, Studium in Hamburg, danach Arbeit wieder in Schleswig-Holstein. Kein spektakulärer Werdegang, die meisten anderen aus meiner Klasse haben es ähnlich gemacht. Deutschsein ist hier normal, wer denkt schon darüber nach. Man lebt so, wie die Eltern und die Umgebung es vorgeben, vielleicht mit kleinen Modifikationen, aber immer im Rahmen. Man vergleicht sich mit Freunden und Bekannten und findet, dass das Leben gar nicht anders gehen kann.


Ich hatte also keinen Grund, an meinen Werten und Verhaltensweisen zu zweifeln.
Dann treffe ich durch meine Arbeit im Willkommen-Team Norderstedt Menschen aus dem Mittleren Osten. Und ich stelle fest, dass ich auf andere Menschen merkwürdig wirken kann.
„Hast du morgen Zeit?“, werde ich zum Beispiel von ihnen gefragt.
„Ja“, erwidere ich.
„Gut, dann sehen wir uns morgen.“
„Moment mal, wann denn? Vormittags? Nachmittags? Lasst uns eine Zeit abmachen.“
„Susanne, du bist aber auch sehr deutsch. Du kommst einfach irgendwann. Wenn wir nicht da sind, dann sehen wir uns später.“
Nein, damit kann ich definitiv nicht leben. Das ist mir zu vage. Dafür bin ich zu deutsch. Wenn ich eine Verabredung treffe, dann soll sie auch stattfinden. Wir machen eine Uhrzeit ab. Natürlich bin ich pünktlich.
Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Aus Höflichkeit wird von einem arabischen Programm auf einen deutschen Sender umgestellt. Ich, deutsch, bin irritiert und leicht genervt. Der Fernseher läuft während der gesamten Unterhaltung weiter, mit Ton. Ich versuche, das zu ignorieren und über wichtige Dinge zu sprechen.
„Ihr braucht eine Haftpflichtversicherung.“
„Warum brauchen wir eine Haftpflichtversicherung?“
„Ihr könntet aus Versehen etwas kaputt machen, was jemand anderem gehört. Oder ihr könntet einen Unfall verursachen. Dann würde es teuer für euch.“
„Wir haben noch nie etwas kaputt gemacht, was jemand anderem gehört. Wir haben auch noch nie einen Unfall verursacht. Alle Deutschen sorgen sich zu viel. Hier gibt es für alles Versicherungen, sogar für Reisen. Wahrscheinlich haben die Deutschen viel Angst. Wir brauchen das nicht. Wir haben nicht so viel Angst.“
Ich brauche sehr lange, bis ich ihnen die Notwendigkeit einer Haftpflichtversicherung deutlich gemacht habe. Mitleidige Blicke meiner Gesprächspartner teilen mir ihr Bedauern über meine Ängstlichkeit mit. Am Ende habe ich das Gefühl, sie stimmen dem Abschluss der Versicherung nur zu, um mir einen Gefallen zu tun.
Es dauert viele Wochen und braucht noch viele Begegnungen mit diesen Menschen aus dem Mittleren Osten, bis ich meine „sehr deutschen“ Verhaltensweisen klarer wahrnehme. Und dann sind zwei Seelen in meiner Brust: Da ist einerseits der Stolz auf viele Eigenschaften, die ich (und meist mein Gegenüber auch) als positiv empfinde - ich bin verlässlich, hilfsbereit, organisiert und diszipliniert. Aber andererseits bin ich auch verkrampft, ängstlich, besorgt und etwas pedantisch.
Als mir das bewusst wird, bin ich dankbar. Dankbar, dass mir auf diese sehr offene Art von den Menschen aus dem Mittleren Osten ein Spiegel vorgehalten wird. Dankbar auch dafür, dass ich selbst entscheiden kann, wie ich mich verändere. Denn dass ich mich verändern will, ist mir inzwischen auch klar geworden: Ich will lockerer werden, mehr dem Leben vertrauen und großzügiger mit anderen Verhaltensweisen sein.
Dies alles erzähle ich den Menschen aus dem Mittleren Osten und freue mich, dass es den anderen auch so gegangen ist. Lächelnd wird mir ein neuer Ordner mit Register vorgeführt, für alle in Deutschland und im Leben wichtigen Unterlagen.  
Wir verstehen uns.

Schlagwörter:

WIR HIER Herausgeber

Willkommen-Team Norderstedt e.V. und
Flüchtings und Migrationsarbeit Norderstedt in Trägerschaft des Diakonischen Werks Hamburg-West/ Südholstein.

Redaktionsanschrift
Fadens Tannen 30, 22844 Norderstedt
E-Mail: magazin@willkommen-team.org
Tel: 040 / 63861261

Urheberrechtshinweise

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder und
verbleiben mit allen Rechten bei den Autor/innen.
Die Porträt-Fotos stammen aus Privatbesitz bzw. von Srapion Gevorgyan.
Vervielfältigung und Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion bzw. der Rechteinhaber.

Webdesign

© 2017 Willkommen-Team Norderstedt e.V.